Metallicas „72 Seasons“ – Nackenschläge im Stakkatotakt – ein Nerd Review
Ich bin seit 37 Jahren Metallica Fan – mit allen Höhen und Tiefen. Das erste Album, bei dem ich die Veröffentlichung mitbekommen habe, war „…And Justice For All“, aber eben nur mitbekommen, denn kaufen konnte ich es damals nicht. Mein wohl größtes Erlebnis mit dieser Band ist ein Konzert in Budapest 1988 – noch vor dem Fall der Mauer zwischen der BRD und der DDR, dem Staat, in dem ich lebte.
Irgendwann wurde mir klar, Metallica als Garant für wegweisende Alben, für Alben ohne Schwächen, das war eben nicht zu erwarten und es dauerte eine Weile, das zu akzeptieren. Heute bin ich viel entspannter und weiß, Bands, die das könnten, vor allem über Dekaden, die gibt es nicht. Dennoch bin ich immer noch aufgeregt, endlich eine neue Metallica auf den Dreher zu heben und so war es auch beim neusten Werk von Metallica: 72 Seasons. Meine Emotionen, vielleicht auch Wertung zu den neuen Songs, darum soll es in diesem Blogeintrag gehen. Diesmal möchte ich aber einen anderen Ansatz wählen – ich möchte es in Gesellschaft machen.
Der passendste Mensch dafür, den ich kenne, ist mein Sohn Max. Gitarrist/Frontmann bei TormentoR und Gitarrero bei Reckless Pile, sowie – und das prädestiniert ihn für dieses Review – Metallica-Fan seit Kindheitstagen. Sein erstes Konzert mit Metallica erlebte Max im Alter von fünf Jahren, somit ist er nun schon selbst über 25 Jahre Fan – allerdings auf einem Level, welches ich nie erreicht habe.
Nachdem sich inzwischen jeder von uns die Platte über 30 Mal angehört hat, legten wir sie bei einem Familientreffen endlich auch mal zusammen im Musikzimmer auf, und ließen dem Nerdtum freien Lauf Los gehts!
- 72 Seasons
Popper: Mit recht spartanischer Instrumentierung beginnt die Reise auf 72 Seasons, Ulrichs Hi-Hat wird etwas gestreichelt, die Gitarren scheinen sich aufzuwärmen – am Ende der ersten Minute nimmt der Song nicht etwa Fahrt auf, nein, er explodiert förmlich. Dieses Thrash-Thema wird uns immer wieder im Song begegnen, doch zunächst steigt Hetfield mit einem Gesang ein, der etwaige Ängste über zu viel „Gejaule“ in mir ersticken lässt. Der speedige Refrain hat mich sofort gefangengenommen und harmoniert super mit dem Song. Ein fetter Opener!
Max: Jepp, im Ganzen ein klassischer Metallica Opener, aber doch anders! Hier hat Hammett die Main-Riffs geliefert, welche sich als absolut goldrichtig herausstellen. Die Strukturen des Songs verweisen auf den Thrash der 80er. Nach dem zweiten Refrain setzt der Mittelpart ein – das leerlaufende Riff ab Minute 4:15 hat mit einem Halbton Unterschied ganz klare Verweise an „Metal Militia“, welcher schon einen ähnlichen Part hatte – meines Erachtens nach bewusst gemacht. Der Refrain bleibt im Kopf, wirkt hymnisch. Die Twin-Gitarren leben am Ende des Mittelparts auch nochmal auf. Doublebass wird hier bewusst altersgerecht eingesetzt – nicht übertrieben . Im Vergleich zu „Hardwired“ und „Death Magnetic“ der wohl beste Opener.
- Shadows Follow
Max: Wie habe ich darauf gewartet! Ein Song zwischen den Stärken von „… and Justice“ und dem Black Album, verpackt im heutigen Sound- und songwritinggewandt! Dieser Song hat sich klar „Headbangen“ auf die Fahne geschrieben. Ich hörte diesen Song als ersten Song abseits der bereits erschienen Singles. Mein Vinyl kam einen Tag vor Release (Vorsehung? ) bei mir an, und ich war so gespannt, was jetzt nach dem bereits bekannten Titelsong passiert. Und dann diese Riffs! Mir war sofort klar: genau DAS ist Metallica – Nackenbrecher inklusive! Nach dem zweiten Refrain verfällt der Song für eine gute Dauer in richtiges Mosh- und Headbangingtempo – was nicht unbedingt zu erwarten war und umso mehr durchfuhr mich eine Gänsehaut! Hetfields Vocals kommen hier noch on top dazu! Nach unzähligen Durchläufen der Platte ein absoluter Favorit meinerseits. Das treibende Riff zum Schluss stellt klar eine Reminiszenz zu „The Struggle Within“ vom „Black Album“ dar.
Popper: Ha, mir ging es da exakt so, was kommt jetzt? Und ich bin da absolut bei dir, ein cooler Midtempo Song, mit den erwähnten Verweisen zu den beiden Alben. Bei 0:36 deuten sich zudem – noch etwas zaghaft – die ersten „Nackenschläge“ an, beim ersten Mal Hören war mir nur noch nicht klar, wie geil dieses Stilmittel auf dem Album zu Geltung kommen wird. Dabei: es wird in dem Song oft über die Becken passend zum Riffing „abgestoppt“, was die Härte noch mehr zur Geltung bringt.
Max: Oh ja, absolut! Die Becken verleihen hier die besondere Wucht im Abstoppen – genau so muss das!
- Screaming Suicide
Popper: Als Hetfield nach einer Minute mit etwas heiser klingender Stimme in den, ebenfalls als Single vorab bekannten, Song hier einsteigt, war ich doch positiv überrascht – weil das hätte er ja auch „sauberer“ singen können. Wollte er aber offensichtlich nicht und könnte man als eine Reflexion von ihm an sich und sein Alter interpretieren. Die raue Stimme bleibt dem Stakkato-affinen Song erhalten, gut so.
Max: Du hast absolut recht! James’ Vocals sind hier in der Tat eher rau, roh und tief. Ähnlich dem, wo er vor über 30 Jahren schon mal war – aber doch wieder anders
Was macht diesen Song also jetzt genau aus? Erstmal – die Main-Riffs sind on fire! Schon hier hört man die Inspiration der NWOBHM. Zudem erinnert der Vibe der Riffs und Drums sehr an den Song „Prince Charming“ vom 1997er Reload Album. Im Fokus stehen hier auf jeden Fall die Lyrics! Suizidgedanken und Depressionen können jeden, zu jeder Zeit und in fast jedem Alter treffen! Es ist sehr wichtig, darüber zu reden, zu singen und zu vermitteln. Hetfield fügte in letzter Zeit auf Konzerten immer mal wieder zum Publikum ein: „You are not alone“ – Dieser Song zeigt – wir sind alle Menschen, egal ob berühmt oder nicht.
Popper: So ist es, überhaupt, stößt Hetfield mit seinen Texten sehr in seine intimen Bereiche vor und es scheint sowohl Selbsttherapie zu sein, als auch Handreichung für andere Menschen.
Max: Jap, definitiv! Musik ist auch Therapie. Viele Musiker*innen werden dies bestätigen können. Und wenn dann Menschen da draußen sich durch deine Texte und Musik ergriffen, bestätigt, geholfen oder inspiriert fühlen, dann ist das etwas Großartiges! Daher sind seine Texte abermals etwas, wofür ich sehr dankbar bin und zudem sehr inspiriert.
- Sleepwalk My Life Away
Popper: Dieser knapp sieben Minuten währende Song lässt mich nach wie vor etwas ratlos zurück. Damals unbekannt, hoffte ich immer noch, dass etwas „passieren“ würde, das tut es allerdings nicht. Vielleicht einer der Songs, die zur von Kritikern bemängelten Länge des Albums beitragen, ohne etwas beizutragen.
Max: Ja, ich empfinde es ähnlich. Der Song besitzt sicherlich Potenzial für eine Hit-Nummer, aufgrund dessen er recht eingängig daher kommt. Jedoch wird dies in der Länge des Songs leider verspielt. Hier ist das Main-Riff zu 99 % dem von „Enter Sandman“ entnommen – wenn man eine Note tauscht, ist es nämlich eben jenes Riff. (Für die Guitar-Nerds: Die zwei Noten auf dem 5. und 6. Bund auf der tiefen E-Saite wurden hier in der Reihenfolge geändert – checkt das ruhig mal ) Der Song hat einen geilen Groove und einen coolen Refrain, der einen tollen Vibe hat. Eine absolut solide Nummer. Aber eben auch nicht mehr als das.
- You Must Burn!
Popper: Verdammt, hier wird die sieben Minuten Latte gerissen und ähnlich wie beim Song zuvor geht es gemächlich, unspektakulär zu. Keine Ahnung, Max, höre ich da sowas wie „Sad But True“, nur in langweilig? Ab der Hälfte wird der Song aber dann erst doomiger (Black Sabbath like) und dann dynamischer (sanfte Nackenschläge und unheilschwangere Chorus-Lines). Diverse Stakkatoschläge unter Kirk Hammetts Solo finde ich dann doch ganz geil, zumal es auch eher clean daher kommt.
Max: Yes, das Main-Riff sowie die Strophe sind doch verdächtig nah an „Sad But True“ angelehnt. Ähnliche Verweise hatte man auf dem letzten Album ja schon in „Dream No More“ gehört. Jedoch funzte der Song weitaus mehr. „You Must Burn“ hat echt lange bei mir gebraucht, bis überhaupt was aus dem Song hängen blieb. Als Highlight würde ich tatsächlich den gesamten Mittelpart angeben, welchen du ja bereits angesprochen hast. Der kurze zweistimmige Gesang, den sich Rob und James teilen und in Alice in Chains Tradition geführt wird, hätte mehr Länge verdient. Der folgende Black Sabbath Gedächtnispart gefällt ebenfalls sehr und gibt den Song endlich etwas Drive! Was hier alles unnötig in die Länge zieht, sind die Übergänge in die nächsten Parts. Hier hätte es sich wirklich gelohnt, alles etwas kompakter zuhalten und auf über eine Minute runter zu kürzen und der Song hätte seine Stärken mehr ausspielen können.
- Lux Æterna
Max: Als Metallica aus dem absoluten Nichts die erste Single des neuen Albums veröffentlichten, saß ich mit großen Herzklopfen vor meinem Fernseher, um mir direkt das Musikvideo anzuschauen. Lautstärke auf Anschlag, obwohl noch unwissend, was ich gleich zu hören bekomme. 10 Sekunden später ballert Ulrich einem eine krasse Doublebass um die Ohren und das Main-Riff sorgte bei mir für eine Gänsehaut, wie sie mir einfach nur Metallica bescheren kann! Der Song lief dann wahrscheinlich an jenem Tag in Endlosschleife über 20 Mal und wildes Headbangen und Air-Drumming blieben nie aus.
Ähnlich ging es mir sieben Jahre zuvor, als „Hardwired“ als Titelsong der damaligen neuen Platte aus dem Nichts auftauchte. Besagter Song und Lux Æterna bilden übrigens zusammen mit „Motorbreath“ die drei kürzesten Metallica Songs überhaupt! Mit der Textzeile „Full Speed or Nothing“ hat man sogar so den Verweis auf „Motorbreath“ geschaffen. (clever erkannt! Anm. Popper). Musikalisch eine große Verbeugung vor Motörhead und Diamond Head und ein wohlwollender Blick zurück auf „Kill ‘em All“. Schon jetzt ein Klassiker der heutigen Metallica Ära, welcher sogar viele der ewig nörgelnden Fans der ersten drei Alben zufriedenstellen konnte. Alles richtig gemacht und somit ein großes Highlight des Albums!
Popper: Ahh, da lag ich in meiner Wahrnehmung richtig, einer der kürzesten Metallica Songs und ganz Klar eine Hommage an den NWOBHM, wobei die zitierten Bands da und dort etwas auseinander gehen. Ein krasser Song, der mich ebenfalls echt geflasht hat, ob der Geschwindigkeit, die bisweilen unterbrochen wird, von ein paar heftigen Nackenschlägen ab Minute 1:34 im Dreifach-Pack, und ab 2:04 leicht verschleppt auf krasse sechs gepusht werden – so geil! Ein absolutes Hightlight der ersten Scheibe (wir gehen hier von einer Doppel-Vinyl Version aus).
- Crown Of Barbed Wire
Popper: Also den Song hier, den habe ich ja lieben gelernt. Gleich zu Beginn sind mir diese Disharmonien in den Gitarrenläufen positiv aufgefallen und obschon die Gesangslinien nicht eben schräg sind, konterkarieren sie diese auf geschickte Weise. Ich meine da und dort einige Verweise an Black Sabbath Riffs zu erkennen, zudem gefällt Kirks Solo.
Max: Ich bin absolut bei dir, Papa! Der Song brauchte seine vier, fünf Anläufe und dann wollte mir dieser großartige Refrain nicht mehr aus dem Kopf gehen – was für eine geile Vocal-Line! Ebenfalls ein Song, bei dem das Main-Riff einer Idee von Hammett entsprang. Ein Clip auf YouTube aus dem Jahr 2017 zeigt die Band in ihrem Tuning Room vor einer Show: Hammett haut ein Riff raus, welches er als „Western Metal“ beschreibt. Das Riff bestand aus zwei Teilen. Hetfield gefiel wohl besonders der letztere Teil, probierte ein bisschen herum, verlieh dem Riff mehr Heavyness und das hören wir genau so jetzt auf der Platte – verrückt!
In der Mitte bricht der Song in das von dir erwähnte disharmonische, heavy Riff ein, welches mich an ein Ähnliches aus dem Song „Am I Savage“ von der „Hardwired“ erinnert, eben wohl wegen dieser Dissonanzen. Das Solo lebt, unterstrichen von fetten Riffs und treibenden Groove! Dieser Song enthält Elemente und Stärken der „Load“ Scheibe, das ganze ein Ticken mehr wuchtig und evil!
- Chasing Light
Popper: Chasing Light beginnt sehr catchy und Hetfield leitet seinen Gesang mit einem „Uhhh“ ein, welches mich unweigerlich schmunzeln lässt. Die spitzen Vocal-Lines von Het im Refrain (singt dann: „lean on me“ und wird von Lars via Trommelwirbel über die Snare eingeleitet) haben mich schon beim ersten Mal aufhorchen lassen und bis heute fixen die mich an, so krass gesungen, so hoch! Vielleicht liegt das daran, dass ich das Hetfield so nicht mehr zugetraut habe. Kirk lässt sein Wah-Wha im Schrank und bei 3:40 gibt’s wieder was in den Nacken. Eine Minute vor Ende kann ich mich noch mal am Refrain ergötzen und der Song endet so krass im Stakkato, dass ich mir noch eine halbe Minute mehr gewünscht hätte. Top!
Max: Eine verdammt amtliche Heavy Metal Nummer, welche besonders von Hetfields grandiosem Gesang lebt! Er traut sich souverän in hohe Lagen vor und gibt uns hiermit abermals eine wohlwollend warme Erinnerung an „Kill em All“. Beim ersten Hören freute ich mich sehr, dass das Gaspedal endlich wieder mehr durchgedrückt wurde und war doch danach wieder ernüchtert, dass der Song in der Strophe wieder in Midtempo verfällt. Nach mehrmaligen Hören schätzte ich diese Dynamik jedoch sehr, da man den grandiosen Refrain somit schön aufbaut und das Tempo wieder hochschraubt. Das Ende des Liedes, mit seinen wuchtigen Nackenschlägen, wobei man erst glaubt, dass sie gar nicht mehr aufhören wollen, lassen mich immer wieder fassungslos, mit offenem Mund zurück. Eben jenes Gefühl, das man bei dieser Band nicht missen möchte.
- If Darkness Had A Son
Max: Oh yes, Baby, Black Album, aber volles Rohr! Ich könnte mich hier kurz halten und einfach sagen, der Song wäre auf eben jenem Album genauso ein Hit geworden, wie viele der anderen
Die im Namen erwähnte Dunkelheit ist hier Programm, schwingt doch immer wieder dieses bedrohlich Finstere in der Strophe mit, welche dank der Doublebass gepaart mit Tom-Läufen einen tollen Drive bekommt. Textlich eröffnet James den Song mit dem Wort „Temptation“. Der geneigte Metallica Fan erinnert sich hier sicher sofort an den „Some Kind of Monster“ Film. Vor James’ erstem Aufenthalt in die Reha entstand ein Song gleichen Namens, der es später nicht auf die „St. Anger“ schaffte, jedoch nie in Vergessenheit für die Nerds geriet. Hetfield besang dort schon recht ähnliche Dinge. Daher könnte man vielleicht meinen, dieser damalige Song ist nicht unbeteiligt an eben jenem Text, den wir hier hören. Abseits dessen bleibt hier abschließend zu sagen – eine der stärksten Nummern auf der Platte, welche sich auch nach der Tour zum Album zu einer festen Größe in der Setlist mausern wird – zu Recht!
Popper: Black Album, ganz klar, das ging bei mir ebenso als Erstes im Musikgedächtnis herum. Schon wie die Band einsteigt, mit fettem Stakkato und heavy Drums, die bisweilen in Doublebass-Attacken ausarten. Und dann dieser super melodische Refrain – top! Nach den ersten beiden Strophen/Refrains geht die Band erneut aus der Kalten dazu über, deinen Nacken zu massieren, ab 3:44 wird er mit den ersten sechs harsch abgestoppten Schlägen malträtiert. Der Text ist ganz sicher eine Erwähnung wert, da liegst du richtig.
- Too Far Gone?
Popper: Keine Ahnung, warum: Beim ersten Hören des Refrains verziehe ich etwas die Mundwinkel, weil ich diesen Volbeat-Touch in Hets Stimme nicht mag. Einen drauf setzt er dann ab 2:54 mit einigen „ohuhuoho-lalalas“. Obschon mir der Einstieg mit „I, I am desperation …“ sehr gut gefällt! Dazu zieht Hetfield auch, wie zu „Black Album“ Zeiten, die Endungen mit „s“ gern mal nach, um sie auf „sss„…aaah“ klingen zu lassen. Finde ich geil! Nach einigen Durchläufen ist das Gesamtkonzept des Songs richtig gut! In den Nacken gekloppt wird das erste Mal bei 1:24, dann bei 2:25 und noch mal etwas abgeschwächt bei 4:07. Ab 2:35 erfreuen Thin-Lizzy-artige doppelläufige Leads das Herz des Metal Fans, generell finde ich das Schlagzeug sehr frisch und anspruchsvoll, auch Kirks Solo ist geil, erinnert es doch an „Kill ‘em All“ Zeiten, oder Max?
Max: Lustig, wie wir beim ersten Hören des Refrains exakt den gleichen Gedanken an Volbeat hatten! Ich war somit auch erst etwas verunsichert. Als der Song jedoch dann richtig Fahrt aufnahm und diesen immens geilen Mittelpart erreichte, bebte mein Herz vor Freude! Das Main-Riff hat eine tolle Ähnlichkeit zu „No Remorse“. Für mich sind die Twin-Gitarren eher im Stile Iron Maiden angelegt, was mit den „Oh hoo“ Gesängen sogar noch schlüssiger für mich erscheint. Eine tollte Verneigung vor den Einflüssen der Band. Kirks Solo ist hier in der Tat recht simpel gehalten und hinterließ auch bei mir „Kill ‘em All“ Vibes.
Der Song stieg bei mir mit jedem Hören stetig mehr in meiner Gunst, nicht zuletzt, weil er das Gespann der letzten drei Songs auf der Platte einläutet.
Popper: Da sagst du was!
- Room Of Mirrors
Max: Aber jetzt – back to thrash, obwohl es erstmal gar nicht so sehr den Anschein hat. Der Song beginnt mit einem eher zurückhaltenden Einstieg. Danach wird das Gaspedal schon mal sanft durchgedrückt. Das Main-Riff erinnert hier, aufgrund seiner Akkordwechsel, verdächtig an „Lords of Summers“. Der Gesang ist in der Strophe im Kontrast zum Riffing eher zurückhaltend und melodisch. Ab dem Mittelpart spielen Metallica jedoch gekonnt alle Stärken der 80er aus! Allein diese glorreiche, zweistimmige Melodie hätte auch mit Bravour auf frühen Alben punkten können. Ab Minute 4:03 knüppelt man dann verdammt heftig durch – beim ersten Hören stellte sich eine kurze Ernüchterung ein, da dieser Part nur von kurzer Dauer als Bindeglied gebracht wurde. Aber man packt zum Ende gleich noch mal eins drauf – bringt die Melodie wieder zurück und steigert sie mit furiosen Doublebass-Geholze! Das lässt das Fan-Herz ganz, ganz hochschlagen und ist somit für mich jedes Mal ein Gänsehautmoment!
Popper: Ganz recht. Zu Beginn mache ich noch eine leichte Melancholie aus, welche dann alsbald in brachiales Stakkato übergeht. In den Gesangslinien finden sich jene in der Art, als James doch ziemlich am „Jaulen“ war , es hält sich aber dann doch in Grenzen. Das Solo ab der Hälfte finde ich zunächst unspektakulär, es mausert sich dann aber und geht später in schöne Doppel-Leads über. Die zweite Hälfte des Songs gefällt mir insgesamt besser, auch wegen der speedigen Stakkato-Attacke. Kommt mir gar länger vor als 5:30.
- Inamorata
Max: Schon vor dem ersten Hören war mir die stolze Länge von 11:10 Minuten des Songs bewusst. Es deutete sich also ein Epos an. Mittlerweile wissen wir, dass Inamorata sich sehr gekonnt in die bereits bekannten Überlänge-Songs einreiht, ganz im Stile von „My Friend of Misery“, „Bleeding Me“, „The Outlow Torn“ und „Fixxer“ – gepaart mit Elementen der Instrumentalsongs. Als Easter Egg hat James wohl bewusst die Textzeile „Misery loves Company“ eingefügt (), was mir mehr als schlüssig erscheint – denn der epische Mittelpart mit seinen doppelläufigen Harmoniegitarren ist sehr an eben jenem aus „My Friend of Misery“ angelehnt! Am Besten zu hören ab Minute 7:12 bis 7:27, wo die Noten hochgezogen und direkt wieder abgestoppt werden. Hetfield selbst sagte zuletzt in einem Interview, dass hier sein innerer Tony Iommi bei ihm durch kam, was man eindeutig in dem doomigen Anfangsriff hört, auch die hervorragende Bassline in der Mitte des Songs zeugt davon. Gesanglich zieht er hier alle Register und begeistert im Refrain mit bluesigen, warmen Lines. Kurz vor dem Einsetzen des Mittelpart brüllt er dann noch mal heftig „… not what I’m living“, was nochmals für Gänsehaut sorgt. Dieser Song ist zwar der bis dato längste Song der Band, rauscht aber aufgrund seiner Intensität so sehr an einem vorbei, dass man gewillt ist, ihn immer und immer wieder zu hören. Und genau das liebe ich an dieser Band!
Popper: Dieser Song hat es tatsächlich in sich und hat mich emotional wie kein zweiter auf „72 Seasons“ berührt. Ich höre zu Beginn den Doom von Black Sabbath, dann setzt der Gesang ein. Genau an der Stelle musste ich überlegen, woran mich das Riff erinnert. Sicher ist es Zufall, aber es klingt wie das Mainriff aus Lenny Kravitz’s Song „Are You Gonna Go My Way“. Hetfields Gesang mag ich sehr, das könnte auch an dem Teil liegen, wo es ruhig wird, wir nur noch die Hi-Hat und den Bass hören und dann Het wieder einsetzt. Das, was darauf folgt, ist für mich sehr einzigartig und beim ersten Mal Hören schnürte es mir tatsächlich die Kehle zu, derart angetan war ich von dem, was ich da hörte. Zunächst meinte ich, ab 6:41 eine Hommage an die „… and Justice“ zu hören, aber hier hast du mich ja dann auf den rechten Weg gebracht. Okay, ganz von der Hand zu weisen wär’s nun nicht. Fakt ist aber: Diese doppelläufigen Harmoniegitarren haben mich völlig umgehauen, zudem hat Rob so unheimlich warme Bass-Lines darunter gelegt … es kommt dann noch mindestens eine dritte Gitarre als Lead dazu, so krass, ich könnte heulen . Ab 8:53 wird das Tempo angezogen und es gibt eine Art „grand finale“ – Max, woher kenne ich den Part ab 10:41, verdammt?
Max: Mich hat das stark an das Live-Ende von „Orion“ erinnert. Man zieht das Tempo an und die Drums steigern sich, unterlegt von Doublebass. Zudem auch das Herunterfahren der Drums und Abstoppen samt Snare und Toms. Einfach sehr gelungen!
- Gedanken zum Cover und Artwork
Popper: Cover und Artwork gefallen mir sehr gut. Es ist alles gut zu lesen, was sicher auch dem guten Kontrast aus schwarzer Schrift und gelben Hintergrund geschuldet ist. Und Gelb ist ja definitiv die Grundfarbe von 72 Seasons! Das Thema „Jahre des Lebens von der Geburt bis zum 18. Lebensjahr“ (macht ja dann 72 Jahreszeiten, die ein Mensch bis dahin erlebt) ist aufwändig, detailreich und gut umgesetzt. Der Großteil scheint auch tatsächlich fotografiert worden zu sein. Mit viel Glück erkennt man eine Schallplatte auf dem verkohlten Vinyl-Haufen auf dem Cover aus seiner Sammlung wieder – wir beide konnten ja trotz Mühe keine erkennen . Die Schwarz/Weiß Porträts der vier Musiker auf den Innenhüllen der Scheiben sind von dem mir bis dato unbekannten Lee Jeffries – ziemlich krass, nur mit einem Reflektor als Lichtruder, mit Weitwinkel fotografiert und in der Bearbeitung sehr detailliert – top!
Max: Anfangs fand ich das Cover doch eher … nun – merkwürdig. Jetzt im Nachhinein erscheint es mir sehr schlüssig. Hierzu muss ich auch sagen, habe ich mir ausgiebig Interviews der Band, besonders die von Hetfield, angeschaut oder durchgelesen. Die Farbe Gelb wurde hier sehr bewusst gewählt und repräsentiert die Hoffnung und das Licht, auch in den unschönsten Phasen des Lebens. Ursprünglich wollte er auch, dass die Scheibe „Lux Æterna“ heißt – man entschied sich jedoch für „72 Seasons“, da es den textlichen Inhalt besser zusammenfasst. Und somit repräsentiert auch das Cover dies mit all seinen Details, was vor allem in der Vinyl-Version schön zu erkunden ist.
- Schlussbetrachtung: die D-Side: was macht sie aus?
Max: Eins muss man hier wirklich nochmal zum Ende hervorheben: Die D-Seite hat es mit seinen letzten drei Songs absolut in sich! „Too Far Gone“ und „Room of Mirrors“ hätten prinzipiell auch eher an den Anfang der Scheibe gepasst. ABER! Diese zwei Songs ziehen in ihrer Härte nochmal alle Register und bilden die Eröffnung für die abschließende Krönung „Inamorata“, was einen absoluten Hörgenuss darstellt.
Popper: Da bin ich voll bei dir. Die Platte könnte zwar insgesamt straffer sein, meinetwegen auch zwei Songs weniger enthalten, aber sie beginnt stark und schnell, hat in der Mitte mit Songs wie ”Lux Æterna” oder “If Darkness Had A Son” einen echt fetten Mittelteil und endet mit der D-Seite und dem epischem „Inamorata“ Das ist mehr als nur eine solide Scheibe und mir kommen dann Gedanken wie:
Sind Rock- oder Hardrock-Bands der früheren Generationen gealtert, war das eine Sache, über die meist wohlwollend hinweg gesehen wurde. Neue Songs konnten ohne Weiteres auch noch so klingen wie die Frühwerke, sie live zu spielen war/ist durchaus möglich – wenn man die 60 überschritten hat.
Anders sieht das bei der ersten Generation von erfolgreichen Thrash- und Deathmetalbands aus, zu denen eben Slayer, Megadeth oder eben Metallica gehören. Deren Härtegrade werden sehr häufig von den Fans auch im fortgeschrittenen Alter erwartet, nicht nur in neuen Songs, sondern auch beim Konzert. Metallica sind nun quasi 60, und vor diesem Hintergrund finde ich gerade auch „72 Seasons“ bemerkenswert hart und dennoch kompromissbereit, bietet es doch Songs, bei denen die Musiker nicht Gefahr laufen, das Gesicht zu verlieren, gerade wenn es darum geht, sie live zu spielen.
Max: Ich stimme dir absolut zu! Bands bzw. Musiker entwickeln sich – im Leben und auch in ihrer Musik. Es gibt sicherlich Bands, die sich ihrer Linie immer treu geblieben sind – aber das auch mit voller Überzeugung. Metallica tickt in der Hinsicht schon immer anders. Auch ein Lars Ulrich wird nicht müde zu erwähnen, dass man der Band schon mit „Fade to Black“ das Wort „Kommerz“ hinterhergerufen hat. Darum wirkt es in meinen Augen fast lächerlich, wenn sich Menschen immer wieder aufregen, dass Metallica gar nicht mehr wie in den 80ern klingen. Leider nehmen sich eben solche auch nicht die Zeit, ein neues Album bewusst zu hören – dann würde ihnen vielleicht auch auffallen, dass die Band eine unheimlich tolle Dynamik aus allerlei Schaffensphasen auf „72 Seasons“ vereint und zudem neue Höhepunkte nach über 40 Jahren geschaffen hat.
Mein Dank geht an Max, für das gemeinsame Review, sowie an Emma für die Behind The Scene Fotografien und Moritz für seine Hilfe beim Lichtsetzen & Erstellen der Blogbeitrag-Fotos.
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