“Artfremd” – Die Entstehung eines Musikvideos

Die Bandmitglieder von VERDERVER – einer Band, deren Ursprung in Cottbus in der Lausitz zu verorten ist – habe ich schon seit einigen Jahren mit verschiedenen Projekten, nicht nur musikalischer Art, auf dem Schirm. Vor einiger Zeit verdichteten sich Anzeichen dazu, dass VERDERVER ein neues Video präsentieren würden, und wer vielleicht schon die früheren Musikkurzfilme der Band sah, war vielleicht ähnlich darauf gespannt, wie ich, was sich der Kreativhaufen diesmal hat einfallen lassen.

vier darsteller für ein musikvideo legen make up vor spiegeln an

Am 07.07.2019 gab es dann die Videopremiere auf YouTube und bereits beim ersten Durchlauf war ich angetan von der offenen Story, der filmischen Umsetzung und vor allem dem Einfallsreichtum in der Bildsprache. Obschon das musikalische Konzept für mich hier nicht neu war, bot der Song “Artfremd” mit dem Verschmelzen dieser visuellen Darbietung ein so stimmiges Werk, dass ich mehr über den Entstehungsprozess  wissen wollte. Dies wohl auch, und nicht zuletzt, da ich durch meinen Sohn Moritz und dessen Kurzfilmreihe “CAPTIVATED” und der Dokumentation “Live aus Berlin” über StarFM Heavy Hour Moderator Jakob Kranz schon eine gehörige Vorstellung über die Leiden der jungen Filmemacher wusste. Was lag also näher, meinen Wissensdrang dazu mit einem Interview zu stillen.

  • Fangen wir gleich mal mit dem Wichtigsten an: Wie ist das Feedback auf “Artfremd” ausgefallen? In der heute medial so schnelllebigen Zeit zählen, ohne Frage, die ersten Tage.

VERDERVER: Das erste Feedback haben wir ja schon vor Veröffentlichung bekommen, als “Artfremd” im Rahmen der Cottbuser FilmSchau uraufgeführt wurde. Dort haben wir im vollen Haus den Publikumspreis abgeräumt, was wir wirklich nicht erwartet haben. Natürlich stecken da Dutzende Liter Herzblut drin, aber dass sich Otto-Normal-Bürger für fünf Minuten auf diese extreme Chaosmusik einlassen können, war wunderschön anzuschauen.

  • Richtig, das hatte ich mitbekommen, und natürlich meinen Glückwunsch. Ich möchte gar nicht erst versuchen, euch eine Erklärung darüber abzuringen, worum es denn genau in “Artfremd” geht, weil ich glaube, dass es da sicher viele verschiedene Sichtweisen gibt, vielleicht deshalb die Frage nach dem Ansatz: Was war – kurz umrissen – die Grundidee hinter dem Song und dem Video?

VERDERVER: Die Grundidee spiegelt unser ganzes Bandkonzept wider. Es geht um das gleichgültige Loslassen vieler in vermeintlich ruhigen Gewässern, das sich träge Treibenlassen, wenn woanders die Welt brennt. Es liegt eine Faszination darin. Man wird magisch angezogen von der schieren Möglichkeit, lieber nichts zu tun. Sich keine Gedanken zu machen und wegzuschauen, während andere ihr Unwesen treiben und die Welt beschmutzen, mit mehr und mehr Apathie – Teilnahmslosigkeit – infizieren. Bis alle nur noch willenlose Hüllen ihrer Selbst sind. Dann rennt man irrealen, von anderen eingetrichterten Zielen hinterher, und weiß überhaupt nicht, warum. Das wird in jedem unserer Songs sarkastisch anhand von Alltagssituationen beobachtet und auseinandergenommen. In “Artfremd” wird das etwas auf den Punkt gebracht in Zeilen wie: “Jeder Zwang zur Kontrolle ist schon Vernichtung von Gedankenkraft” oder “Man wird müde durch Nichtstun / Weggewischt wie ein Kreidestrich”.

filmszene aus "artfremd": die hauptdarstellerin auf einer art thron, welcher von schwarzen monstern getragen wird
  • Ein wichtiger Ansatz, den ihr verfolgt, ist es doch gerade jetzt wichtiger denn je, eben nicht apathisch zu sein, wenn es zum Beispiel darum geht, den Planeten bewohnbar zu erhalten. Der Beschreibung im Facebook Post ist zu entnehmen, dass ihr 22 Stunden gedreht habt. Bevor ich darauf eingehen möchte, wie habt ihr den Drehtag vorbereitet, vielmehr, wie seid ihr an die Planung des Projektes und eben des Tag X vorgegangen? 

VERDERVER: Ach du Scheiße, ‚lacht‚, naja, das war allein einer der viereinhalb Drehtage, an dem wir so lange am Stück gefilmt haben. Das ging uns allen echt an die Substanz. Zu später Stund war das mehr so eine Art Autopilot im Wachkoma. Die anderen Tage waren aber ähnlich intensiv. 

Im Nachhinein kann man die Vorbereitungszeit gar nicht mehr überblicken. Wir haben bestimmt einen Monat intensiv über jedes Detail gestritten, einen weiteren die Ideen grob formuliert. Es war ein super chaotischer Strudel aus unzähligen Treffen, Basteleien, Materialsuche, Ideenfindungen und Anpassungen an das real Umsetzbare. Um das ganze Durcheinander dann zu strukturieren, haben wir ein sekundengenaues Storyboard geschrieben. Jede Einstellung, jede Szene wurde genau ausgemalt. Übertrieben eigentlich. ‚lacht‚ Wir haben viel mehr geplant, als überhaupt realisierbar war. Das war auch ein langer Prozess, herauszufinden, wo unsere Grenzen sind – örtlich, zeitlich, finanziell. Wir hatten noch tausend weitere Ideen, die wir dann aber runterbrechen mussten, wie zum Beispiel Traumszenen im Birkenmoor und noch mehr Monster, die aber schlicht nicht umsetzbar gewesen wären in der wenigen Zeit, die wir hatten.

  • Dazu vielleicht noch, wie muss ich mir das Brainstorming vorstellen, ab wann wurde euch klar, bei welchen Arbeiten und Abschnitten in der Produktion ihr auf welche Hilfe zurückgreifen wollt oder müsst. Gab es Dinge, die ihr von vornherein “abgeben” wolltet, wo lagen eure Grenzen, so es sie gab?  

VERDERVER: Uns war von Anfang an klar, dass wir alles weitestgehend aus eigener Hand erschaffen wollten. Dafür hat Vince überhaupt erst angefangen, zu filmen. Um in die Materie einzusteigen, ist er auch mit unseren Brüdern Arroganz als Filmer auf Tour gefahren – einfach, um zu üben. “Artfremd” war seine Filmpremiere.  Schnell war uns aber bewusst, dass wir nicht alles, was wir gerne umsetzen wollten, auch alleine hätten stemmen können. Wir brauchten allein acht Schauspieler in den VESEN-Kostümen, was ja auch zeitlich koordiniert werden musste. Und am Wichtigsten war natürlich unsere Hauptdarstellerin Josi, die ja riesig viel Zeit für uns opferte. Auch filmisch konnte Vince natürlich noch längst nicht alles. Copter-Aufnahmen waren elementar, um die Location überhaupt fassen zu können. Dafür haben wir unseren grandiosen Fabian Willi Simon mit ins Boot geholt, der von Bandbeginn an immer mal wieder seine Finger bei uns im Spiel hat. Auch das Colorgrading musste für den schön bleichen Glanz von Fradellafra übernommen werden, an einem lauschigen Sommerwochenende an der Ostsee. Equipment mussten wir uns zusammenschnorren, Locations auch. Und zum Glück haben sich einige Freunde als Helfer beim Dreh angeboten, auch Steff Tina, die unfassbare Behind The Scenes-Fotos geschossen hat – mehr davon gibt es in unserem Newsletter.

  • Orte, an denen fotografiert oder an denen Filme gedreht werden, sind ja bisweilen sehr wichtig für das Resultat, dafür, was der Künstler ausdrücken möchte. Nach welchen Gesichtspunkten wurden eure Örtlichkeiten ausgesucht. Wie viele Drehorte hattet ihr? War es schwer für euch, dort Drehgenehmigungen zu bekommen?

VERDERVER: Die Videoidee wurde aus der Location heraus geboren. Durch einen Lost-Place-Trip sind wir auf dieses verlassene Krankenhaus gestoßen, das ging uns nicht mehr aus dem Kopf. (Der Ort wird hier bewusst nicht preisgegeben, um Vandalentourismus vorzubeugen. Anm. des Verfassers) Dieses gewaltige Ungetüm ist einfach so überwältigend und riesig – dabei auch noch relativ gut erhalten. Nach Abhören des Buschfunks, Zahlungen von Schmiergeldern und langen Verhandlungen mit verschiedenen Parteien sind wir schließlich zum Eigentümer vorgedrungen, der uns kurz vor knapp noch eine Drehgenehmigung erteilt hat – während wir schon angefangen hatten, zu drehen! Bei der zweiten Location – der trockengelegte Karpfenteich – haben wir die Drehgenehmigung quasi direkt vor Ort bekommen, als wir schon mit der Crew unangekündigt angerückt kamen. Die Wüstenebene ist das Setting für die helle Traumszene. Die dunkle Traumszene haben wir in unserem Proberaum gedreht. Dann gab es noch die Feuerstelle, zu der wir eine Stunde auf das Dorf von Vince’ Vater fahren mussten. So große Feuer sind eben nicht überall realisierbar, auch wenn die Szene am Ende vielleicht gerade mal acht Sekunden dauert. Die fünfte Location war ein zufällig leer stehendes WG-Zimmer bei Glönn in der #WK51, das gerade schon wieder zu haben ist (suchen Mitbewohner, jetzt!). 

  • Die personelle Besetzung hast du ja schon angesprochen, und rekrutiert sich eben auch durch die Band selbst. Aber wie war das mit eurer Hauptdarstellerin, habt ihr sie gezielt ausgesucht? 

VERDERVER: Wir hatten ein sehr genaues Bild von der Rolle vor Augen und wussten ewig nicht, wie wir diesen Platz besetzen sollten. Wir sind unseren ganzen Bekanntenkreis durchgegangen, aber haben gar nicht gemerkt, dass die beste Besetzung eigentlich die ganze Zeit zum Greifen nahe war. Glönns Freundin Josi hat dann unsere Perücke und Kostüm anprobiert und wir waren echt geflasht, wie gut sie unserem Bild entsprach.

  • Stichwort Kostüme, du erwähnst es gerade. Was mich besonders fasziniert, ist, wie aus den kleinen schwarzen gebastelten, nun ja, ähh… Monstern, Große werden, das finde ich aus kreativer Sicht toll gemacht. Und sieht nach viel Bastelei für die Kostüme aus. Gibt’s da interessante Einzelheiten zu berichten?

VERDERVER: Ohja ‚lacht‚, das war ein echter Kampf, den Glönn fast im Alleingang gemeistert hat. Allein die Köpfe der Monster waren eine Heidenarbeit, die ganzen Kostüme haben sicher zwei Wochen Arbeit bedeutet. Es wird noch ein Behind The Scenes-Film über den Dreh geben, wo man dann Glönns Zimmer sehen wird – da lag alles kreuz und quer. Hunderte aufgerissene Video- und Kompaktkassetten (ein Spektakel an schwarzem Bandsalat), schwarzer Stoff, Holz, Schaumstoff, Bauschaum, Pappmaschee, Hasendraht, verdammt viele Strumpfhosen und unendlich mehr schwarze Farbe. Beim Basteln haben wir dann sicke Oldschool-Mucke von den leiernden Kassetten gehört, von 90er Techno und Bravo Hits bis hin zu The Beatles. Dann wurden sie ausgeschlachtet ‚lacht‚. Wir hatten einen ganzen Swimmingpool voller Bänder. Die kleinen Monsterpuppen waren aber auch wegen ihrer Details aufwändig. Als Grundsubstanzen dienten eine Mehlpampe (ähnlich wie ein Salzteig), kiloweise schwarze Knete, Stöcker, Watte, Socken und wieder schwarze Farbe.

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  • Verdammt cool! Vielleicht ein paar Worte zum Equipment, wie habt ihr aufgenommen, womit, und, habt ihr gesondert Licht gesetzt?

VERDERVER: Auf Kunstlicht haben wir weitestgehend verzichtet, nur für ausgewählte Szenen haben wir ein sehr experimentelles Setting gewählt: Für die Einschlafszene vom Ego, wo sie Szenen vom Beamer über ihr Gesicht gestrahlt bekommt, für die schwarze Traumszene und die Monsterjagd kurz vor der Verbrennung. Sonst haben wir das natürliche Licht eingefangen, was elementar war für die Grundstimmung im leeren Krankenhaus. 

An Kameras hatten wir eine Canon 6D und eine Sony Alpha 7 II. Letztere haben wir noch kurz vor der Angst vom Media Team der BTU Cottbus geliehen, da sie Slowmotion-Aufnahmen realisieren kann. Ansonsten: Stativ, Leitern, ein sehr wackeliger Gimbal und viele tatkräftige Hände.

  • Yo, so kenne ich es auch vom Dreh mit meinem Jüngsten, im Prinzip wird alles genommen, was nützlich und möglich ist. Dennoch erstaunlich, wie geil das Endresultat ausschaut. So ein Video entsteht ja nicht, indem man mal für eine Weile mit der Kamera rumrennt. Wie sah eure Postproduktion aus, von welchem Zeitrahmen reden wir, wer hatte die undankbare Aufgabe zu Sortieren und zu Schneiden?

VERDERVER: Größtenteils hat Vince vorsortiert und geschnitten, aber Glönn saß sehr oft daneben – auch in Berlin bei schlaflosen Sessions. Eine Szene, die im Film acht Sekunden vorkommt, hat dann gern mal eine Nacht Schnitt mit zwei Piepeln gekostet. Insgesamt hat der Schnitt sicher einen Monat gekostet, weil das ja auch Neuland für Vince war – und es ja so perfekt wie möglich sein sollte. Das Colorgrading bei Fradellafra hat dann nochmal ein Wochenende gebraucht.

  • Was hat euch rückblickend am meisten verzweifeln lassen, sowohl beim Drehen als auch bei der Postproduktion? Gibt es Dinge, die ihr mit dem jetzigem Wissen völlig anders angehen würdet?

VERDERVER: Nächstes Mal würden wir bestimmt die Brainstormings etwas spaßiger gestalten, die Aufgaben besser verteilen, mehr Drehzeiten ausmachen, aber das liegt ja nicht immer in der eigenen Hand…. Kommunikation, festgefahrene Ideen/Gedanken im Vorfeld, unsere Liebe zum Detail und gleichzeitig unser beschränktes Budget, das wir gesprengt haben – das brachte uns alles zum Verzweifeln.

  • Das “Artfremd” Video ist nun um die vier Monate online und hat jetzt fast 2500 Views. Wir wissen, welche absurden Klicks/Views im zigtausender Bereich dem hohen Anteil von Müll und Scheiße auf YouTube zu teil wird. Ich meine, “Artfremd” darf man zu Recht als Kunst auf mehreren Ebenen bezeichnen. Wurmt es die Beteiligten, dass die Welt so ungerecht ist?

VERDERVER: Danke!!! Aber nein, überhaupt nicht, wir sind ja eine extrem junge Band, die gerade mal zwei Songs veröffentlicht hat. Wir sind unglaublich glücklich über jeden einzelnen, der den Weg in dieses sehr nischige Chaos findet und dem auch standhält haha. Das ist ja nicht selbstverständlich. Dass Musik mittlerweile überhaupt getrost solch komplexen Lärm anbieten kann, ist doch stark. Mal sehen, was kommt, wenn mehr von uns draußen ist – “Artfremd” wird ja nicht welk 😉 Die Message ist gedroppt und jetzt kann jeder selbst seinen Zugang finden.

  • Danke für die erhellenden Worte, Jungs.

Alle Fotos mit freundlicher Genehmigung von Steff Tina und Unicore Photography

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