Tears For Fears – The Tipping Point – ein Fan Review

Nachdem ich also im Jahr 2019 zum ersten Mal die Möglichkeit hatte, Tears For Fears -‚meine Band‘ – live zu erleben, fehlte zum Glück eines Fans nur noch ein neues Album. Und darüber wurde in den letzten Jahren viel spekuliert und geschrieben – auch von den Protagonisten selbst gab es immer wieder Hinweise darauf. Warum es am Ende gut 17 Jahre dauern musste? Auch dazu gab es Hinweise und Aussagen von Roland Orzabal und Curt Smith, einige davon waren eher schicksalhafter Natur, andere betrafen die Vorstellungen des damaligen Managements, denen die zwei nicht folgen mochten – so richtig in die Gänge kam das Duo scheinbar nicht. 

2020/21 verdichteten sich die Anzeichen, und im Herbst 2021 wurde endlich angekündigt, worauf so viele Fans der Briten gewartet haben: „The Tipping Point“. Das Album erschien dann am selben Tag, wie einst Songs From The Big Chair 1985 – nur eben 37 Jahre später.
Wie ist es denn nun? Wie hört sich Tears For Fears Musik fast zwei Dekaden nach Everybody Loves A Happy Ending denn inzwischen an? Als das Vinyl am Tag der Veröffentlichung zu seinen ersten Runden auf dem Dreher ansetzte, kenne ich immerhin vier der zehn Songs der Platte, dennoch ist meine Aufregung groß – hier also meine Sicht auf die neuen Songs von Tears For Fears.

Tears For Fears live im Tempodrom Berlin 2019
Tears For Fears live im Tempodrom, Berlin 2019

Mit Jonny Cash artigen Gitarren und dem unmittelbaren Einsetzen von Roland Orzabals unverkennbarem Gesang im leichten Bariton beginnt No Small Thing – ein Song mit ambitioniertem Text und einer beängstigenden Steigerung in der Instrumentalisierung. Es geht um die Freiheit, oder vielmehr das, was Menschen verschiedenster Herkunft darunter verstehen könnten, oder interpretieren. Sehr eindrucksvoll wird das auch durch das Musikvideo hervorgehoben, dessen Sequenzen – passend zur Musik – immer krasser werden. So baut sich ein Soundgefüge auf, welches vom leicht verträumten Anfang in eine bombastische aber auch düstere Gitarrenriff-Wand übergeht. Das musste ich beim ersten Anhören (als frühere Auskopplung) erstmal sacken lassen. Wer ganz genau hinhört, kann im Refrain (singt: ‚no small things‘) noch eine ganz tief gesungene Tonspur von Orzabal heraushören – echt crazy.

Das leichtfüßige Keyboard-Intro im Titelsong bereitet den Weg zu einem offenen, beschwingten Drum-Beat. Bis es zum ersten Gesangspart kommt, vergehen in für Popmusik heutigen Maßstäben unvorstellbare 62 Sekunden! Absolut gelungen kommt der Refrain daher, in den man sich recht schnell verlieben kann, und welcher immer mal mit der mehrmaligen schnellen Abfolge der Wörter ‚The Tipping Point‘ oder ‚Love You More‘ genial umspielt wird.

Long, Long, Long Time zeugt besonders zu Beginn von Curt Smiths Gesangskünsten. Man möchte kaum glauben, dass sich seine sehr hohen Tonlagen über die Jahre so gar nicht verändert haben – fantastisch! Musikalisch würde ich den Song ob seiner Drumbeats und Loops als modern bezeichnen, obschon das natürlich für Tears For Fears schon seit 1983 (The Hurting) nichts Ungewöhnliches ist, nur eben sehr zeitgemäß. Das erste Drumfill bei Minute eins, würde ich an eine Reminiszenz zu jenem interpretieren, welches auch Sowing The Seeds Of Love ab der fünten Sekunde einleitet. 

Bei Break The Man dürfe eingeschworenen Fans wohl als Erstes dieses Keyboars/Drum -‚Splash‘ auffallen, welches es so ähnlich bei Pale Shelter zu hören gibt. Der Song selbst ist ein frischer – ich sag mal Tanzsong – also perfekt für eine Disse geeignet – so es denn solche Musik überhaupt noch dort zu hören gäbe. Vermutlich nicht. 😉

Die A-Seite schließt mit einem der ungewöhnlichsten Songs von Tears For Fears, die ich den letzten Jahrzehnten gehört habe. Das flotte, von hämmernden stakkatoaffinen Drums befeuerte My Deamons zeigt auch einen gänzlich anders klingenden Orzabal, welcher hier in mit etwas unterkühlter Stimme gerade am Anfang fast schon in Rap Manier den Song begleitet. Wer möchte, kann auch Parallelen zu musikalisch ähnlich angelegten Depeche Mode Songs finden. Top!

Auch das Eröffnungsstück der B-Seite – Rivers Of Mercy – ist geprägt von Roland Orzabal, der seinen gesamten Stimmenumfang innerhalb der ersten 45 Sekunden des Songs dem geneigten Hörer ans Ohr gibt – und genau das ist es, was ich an diesem Mann so schätze.  Danach übernimmt Curt den Gesang, tragend, ruhig, klar, wobei die ganze Zeit schon unterschwellig ein Thema aus Woman in Chains zu hören ist. Dieses wird im Song immer dominanter und lässt ihn mit einem gewissen Bombast enden. Geile Nummer!


Please Be Happy ist der kürzeste Song, lieblich gesungen von Curt Smith. Man könnte den Song als ruhiges Intermezzo sehen, nicht eben aufregend, wäre da nicht dieses kurze Saxofon Solo! Es ist kaum zu glauben, aber dieser kurze, nur 15 Sekunden währende Part wertet das Lied so sehr auf, dass ich mir wünschte, das ‚Sax‘ hätte am Ende noch mal richtig vom Leder gezogen, Schade.slightly smiling face

Mein Sohn Max lag mit seiner prompten Einschätzung zu diesem nun folgenden Song völlig richtig, wenn er orakelte, dass es für Orzabal wohl die absolute Erfüllung gewesen sein muss, einen Song mit dem Wort „Yesterday“ zu beginnen. Warum? Nun, Orzabal liebt die Beatles und das ist besonders vor 17 Jahren auf dem letzten Album hervorgetreten. Mit Master Plan scheint er sich seinen ultimativen Song zum Thema geschrieben zu haben. Angefüllt mit Beatles Zitaten (dabei nicht mal subtil) ist er üppig instrumentiert und glänzt mit herrlichen Harmonien.

Auch End Of The Night kommt mit modernem Soundgewand – nicht zu verwechseln mit dem Anbiedern an Sounds, die irgendwie hip sind. index pointing up Roland und Curt ergänzen sich auch hier auf magische Weise nahezu perfekt, es ist einer der Songs, welchem es dem Hörer vielleicht am besten ermöglicht beide im Kontext zu hören und damit ihre ganz bestimmten gesanglichen Fähigkeiten zu unterscheiden. 

Stay lässt The Tipping Point als letztem Song ausklingen. Dieser von Curt geschriebene und gesungene ruhige Song steht für eine Zeit bei Tears For Fears, als die Musiker getrennte Wege gingen. Bekannt sein dürfte der Song von der 2017er Kompilation Rule The World und scheint mit seiner Thematik für Curt und Roland so wichtig zu sein, hier wieder zu erscheinen – Recht so.

Ich musste mir natürlich noch die auf 2000 Stück limitierte SDE Edition CD aus UK kommen lassen. Sie enthält drei Bonus Tracks, von denen sich mancher vielleicht Let It All Evolve auf das Album gewünscht hätte, weil er durch seine vielen schönen -Led Zep artigen – Gitarrenläufe begeistert.

Womit ich zum Resümee zu The Tipping Point komme. Entspricht diese Platte, auf die alle Fans so lange gewartet haben, meinen Erwartungen? Yo! Ich habe die Scheibe nun schon über 25 Mal aufgelegt, und auch wenn ich mir Anfangs irgendwie mehr Gitarren erhoffte (Natürlich gibt es Gitarren, nur eben nicht so dominant), habe ich die Songs sehr schnell lieben gelernt. So könnte The Tipping Point eher für eine Zeit vor Seeds Of Love, Elemental oder Raoul And The Kings Of Spain stehen, als Gitarren noch nicht so ausgeprägt bei den Jungs waren – aber man muss auch nicht alles zerreden und tot analysieren. winking face  Tears For Fears klingen 2022 ganz eindeutig immer noch nach Tears For Fears, ohne dabei altbacken zu wirken. Die Entscheidung sich vom alten Management zu trennen, welches bevorzugt auf externe Songwriter setzen wollte, um möglichst viele Menschen zu erreichen, war also ganz eindeutig wichtig und richtig! The Tipping Point ist voller kleiner Querverweise auf Songs und Sounds aus der Geschichte der Band selbst, eingewoben in die Musik zweier Musiker, die im hier und jetzt neue Songs geschrieben haben. Songs, die ihre derzeitigen Fähigkeiten und Ansprüche an sich selbst widerspiegeln. Und wer möchte angesichts der exzellenten Ergebnisse auf Gitarrensoli bestehen? Ich nicht slightly smiling face

2 Comments

  1. […] In einem Blogeintrag gehe ich ausführlich auf dies famoses Comeback Album meiner Faves ein – wer es lesen möchte: hier entlang. […]

  2. lehmann März 18, 2022

    boooh,sitzt du gerade an einer doktorarbeit über diese platte?
    ich musste mir nach deinem review die scheibe noch 2 mal anhören um das halbwegs nachvollziehen zu können, aber da hab ich dann doch zu selten TFF aufgelegt, insgesamt sehr gut geschrieben, von einem grossen fan für fans geschrieben, ich ahne schon, daß das teil wohl auf den plattenpartys/vinyldrehveranstaltungen gesetzt ist…..respekt ….meine favoriten …no small und my demons …dein freund L

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